Über Villa Nova de Cerveira überqueren wir den Grenzfluss Minho zu Spanien und steuern die Kleinstadt Portonovo-Sanxenxo mit seinen beeindruckenden, schönen Buchten an. Die letzte Station vor Sarria, von der ich meinen kleinen Camino gehe. Ca. 118 km bis Santiago de Compostella liegen vor mir. Es ist Mittwoch, und am Samstag möchte ich die Pilgerstadt erreichen. Schaunwamal wie sich alles fügt.
Mittwoch Morgen, 8 Uhr verlasse ich das Womo und auf geht's durch den gut ausgeschilderten Ort, der Muschel und den gelben Pfeilen folgend. Ab in die Natur, die sich kalt und klar mit der wärmenden Morgensonne füllt. Bergauf, bergab durch Mischwälder und tiefen, weiten Tälern - die Augen können sich kaum satt sehen an all den Schönheiten dieser frühen Tagesstunden.
Viele Pilger sind unterwegs, in Gruppen, zu zweit oder dritt und alleine - so wie ich. Englische, chinesisch klingende, spanische, französische, deutsche, slavische und und und Wörter und Sätze dringen in meine Ohren, wenn ich mit einem "Buenos Camino" die Pilgernden überhole. Es wird freundlich erwidert, mal mit einem Lächeln, mal euphorisch, mal versunken und nachdenklich.
Eine jede geht ihren ureigenen Camino, ob mit 16 oder 86 Jahren, ob Weiblein oder Männlein, mit oder ohne Stab, in Hightech-Ausrüstung oder als bayrischer Wanderfreund, mit kleinem oder großem Rucksack, schweigend oder schwatzend, meditativ oder nach außen gewandt - jede hat ihre einzigartige Motivation. Ob religiös, sportlich, spirituell oder heilbringend, der Weg bietet jedem Pilger seine Möglichkeiten. Seine Energie ist frei, kraftvoll und erqickend. Reine Freude begleitet und beflügelt mich, so dass ich kaum merke, wie schnell ich gehe.
Einzelne Fincas und kleine maurische Ansiedlungen und Örtchen schmiegen sich in die Landschaft und heißen die Pilger willkommen. Hier eine Bar, dort ein Café, Souvenirläden und Obststände bieten liebevoll Einlass oder regen zum Kauf an. Orangen in Schalen auf schmalen Tischchen vor den Häusern dienen kostenfrei als Wegverzehr. Brunnen und Bachläufe laden zum Trinken oder erfrischen ein - alles ist da, reichlich. Ein schreiender Esel wird mit sanften Worten beruhigt, das Froschkonzert mit Beifall bedacht. Die Natur geht mit uns den Weg und begleitet ihn mit seinen Fähigkeiten.
Meine dicken Zehen schmerzen, die Schuhe haben sich geweitet - ein Engerschnüren ist kaum möglich, ohne dass sich die Adern auf dem Schaft empören. Die Pause fällt aus, Stillstand könnte die Schmerzen ausdehnen. Nur noch ein paar Kilometer, dann wartet Rolf in Portomarin auf mich.
Geschafft - die Zehen sind gestaucht - es ist 1 Uhr und ich bin 24 km gegangen.
Am nächsten Morgen, 7 Uhr 45, feuchte, neblige Luft lässt meine Oberschenkel sich zwei Nummern kleiner anfühlen. Heute habe ich eine kurze Hose gewählt, da mir gestern die Dreiviertel sehr warm wurde. Zudem schmücken zehenfreie Sandalen meine Füße. Da heißt es, erst einmal zügig und temporeich die erste Anhöhe begehen, damit sich Wärme in mir ausbreiten kann. Von Portomarin nach Palas de Rei - eine ähnliche Naturgegebenheit wie am Tag zuvor, jedoch wesentlich duftintensiver als gestern. Die Feuchtigkeit lässt die Pflanzen duften - die Eukalyptusbäume strömen fast betörend ihre Kompositionen aus - Kiefern lassen mich beruhigend entspannen. Ruinen am Wegrand, zerfallene Häuser und Scheunen versetzen mich in die Zeit der ersten Pilger - das Mittelalter prägte die heutige Pilgerkultur. Meine Zehen pochen und bitten um Pause. Auf einer kleinen Mauer sitzend, im Schatten von knorrigen Eichen, verzehre ich Obst und Brot.
Wieder auf dem Weg spüre ich seine Kraft - mir wachsen Flügel, und ich fühle mich federleicht.
Von weitem sehe ich auf einem kleinen Platz neben dem Camino unser Womo - und wo ein Womo steht, gesellen sich schnell ein weiteres oder auch zwei, drei hinzu. Eine lustige deutsche Pilgergemeinschaft hat sich gefunden.
Meine Zehnägel samt Nagelbett verändern ihre Farben und fordern einen Ruhetag.
Ich erfülle mir diesen Wunsch.
Am dritten Caminotag, 7 Uhr 30, die Tageswärme ist bereits zu früher Stunde spürbar. Der Tag wird sehr sonnig, 28 km liegen vor mir, und ich freue mich zu gehen. Ab heute beginnt der Weg nach Innen. Meine Zehen haben ausreichend Gesprächsstoff geliefert. Lösen, annehmen, integrieren, befreien, vergeben, danken. Vieles bleibt auf dem Weg, übergebe ich Mutter Erde zur Transformation. Der Rucksack leert und füllt sich zugleich mit tiefer starker Dankbarkeit. Gegen 15.00 Uhr erreiche ich in Melide zufrieden das Ziel.
Sonntagmorgen heißt mein Ziel Santiago de Compostela, 7 Uhr 30, der längste Abschnitt mit Treffpunkt vor der Stadt. Die letzten vier Kilometer neben der stark befahrenen Stadtautobahn will ich mir schenken. Ein weiteres Geschenk ist die Hingabe an den Weg. Leer werden, nur den Camino spüren - mich führen und leiten lassen. Ich begebe mich in seine Energie und übergebe mich der Trance. Ich gehe frei des Gehens. Irgendwann spüre ich meine Muskeln - Nahrungsaufnahme ist angesagt - im Gehen. Weiter und weiter tragen mich die Beine, die Füße.
Rolf habe ich verpasst und an irgendeinem Campingplatz halte ich abrupt inne. Ich setze mich nach fast sieben Stunden und 35 km dort auf einen Stuhl und bitte Rolf per Handy, mich dort aufzulesen.
Von dort fahren wir in die Nähe der Kathedrale - das Hingehen auf dieses sagenumwobene Erbe der Weltkultur möge doch stilecht sein !!
Eine Fülle von Gefühlen tut sich auf - ein von - bis - beglückende Momente.
Die Inspiration meiner kleinen Pilgerreise ist erfolgreich und gelungen. Eine Kostbarkeit mehr, ich bin reicher geworden.
In Finisterre bei km 0 ist der Camino zu Ende - am sogenannten Ende der Welt.
Von Santiago de Compostelle fahren wir am nächsten Tag mit drei deutschen Womos incl. Insassen zu den Klippen, bauen eine Wagenburg und übernachten dort, wo der Hl. Jacob der Sage nach in einem Boot tot an Land gespült wurde. Ein farbenprächtiger, klarer Sonnenuntergang gibt dieser einzigartigen Begegnung ihren faszinierenden Zauber.
Wir freuen uns, wenn Dir das Journal gefällt und ganz besonders, wenn Du die Einladung annimmst, Kommentare zu einzelnen Artikeln auf der Facebook-Seite von Leben heilt® abzugeben.
Foto: pixabay