Ich sehe was, was du nicht siehst

veröffentlicht: April 28, 2020 von gefunden von Louise Kranawetter

ParktorVor einiger Zeit lagen zwei Männer in einem gemeinsamen Krankenzimmer. Beide waren sehr krank. Der Eine durfte sich jeden Tag in seinem Bett eine Stunde lang aufsetzen. Sein Bett stand direkt am Fenster. Der andere Mann musste den ganzen Tag und die ganze Nacht flach auf dem Rücken liegen.

Die Männer plauderten stundenlang. Sie sprachen über ihre Frauen, ihre Familien, ihre Berufe, was sie während des Militärdienstes gemacht hatten und wo sie in den Ferien waren. Jeden Nachmittag, wenn der Mann in dem Bett am Fenster sich aufsetzen durfte, erzählte er seinem Bettnachbarn alles, was es draußen zu sehen gab. Der Mann im anderen Bett sehnte sich nach den Momenten, in denen seine Welt erweitert und lebendig wurde, durch die Vorgänge und Farben der Welt da draußen:

"Durch das Fenster sieht man einen Park mit einem reizvollen See. Enten und Schwäne spielen auf dem Wasser, und Kinder lassen ihre Modellboote segeln. Junge Verliebte spazieren Arm in Arm zwischen den Blumen, die in allen Farben leuchten, und eine tolle Silhouette der Stadt ist in der Ferne zu sehen."
Wenn der Mann am Fenster all diese wunderbaren Einzelheiten schilderte, schloss der Mann auf der anderen seite des Zimmers seine Augen und stellte sich das malerische Bild vor.
An einem warmen Nachmittag beschrieb der Mann am Fenster die Parade der Blaskapelle, die gerade vorbeimarschierte. Obwohl der andere Mann zwar außerstande war, die Kapelle hören zu können, konnte er sie richtiggehend sehen - weil der Mann am Fenster sie mit solch eindrucksvollen Worten schilderte.

Tage und Wochen vergingen in diesem Rhythmus. Eines Morgens war der Mann am Fenster friedlich im Schlaf gestorben. Das machte den anderen Mann traurig, doch er fragte die Schwester, ob er ans Fenster wechseln dürfe. Die Schwester erlaubte das gerne und sobald er bequem lag, ließ sie ihn alleine.
Langsam und schmerzvoll stützte er sich mühevoll auf seinen Ellbogen, um einen eigenen Blick auf die Welt da draußen zu werfen. Er strengte sich an und drehte sich zur Seite, um aus dem Fenster zu sehen und erschrak: gegenüber dem Fenster war eine nackte Wand.

Aufgewühlt und erschöpft sank er in die Kissen zurück. Er rief die Schwester, um sie zu fragen, was seinen Zimmerkameraden dazu bewegt haben könnte, so wunderbare Dinge da draußen zu sehen. Die Schwester nahm kurz seine Hand und sagte: "Vielleicht wollte er Sie aufmuntern. Wissen Sie, er war sogar außerstande, die Wand da drüben sehen zu können. Ihr Zimmernachbar war blind."

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Foto: Pascal

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